Dossier: Die semi-nomadische Lebensweise

Mit eini­gen weni­gen Aus­nah­men fand das halb-noma­di­sche Dasein der Jeni­schen im Zuge des letz­ten Jahr­hun­derts ein gewalt­sa­mes Ende (→ Dos­sier: Ver­fol­gungs­ge­schichte). Vor die­ser Zäsur jedoch zählte das unstete, an Kar­ren und Ruck­sä­cken gebun­dene Leben der Fah­ren­den für lange Zeit zum bekann­tes­ten Merk­mal die­ser Bevöl­ke­rungs­gruppe. Für gewöhn­lich war man nur in den war­men Jah­res­zei­ten unter­wegs, jeni­sche Fami­lien hat­ten ein fes­tes Win­ter­quar­tier. Die­ses Quar­tier befand sich häu­fig in der Ort­schaft, in der die Fami­lie auch das soge­nannte Hei­mat­recht besaß (→ Dos­sier: Hei­mat­recht, Rome­hen und Zwang zur Sess­haft­wer­dung).

Unbe­dingt warm­her­zig war der Umgang mit den Jeni­schen nicht immer: in der Regel woll­ten keine „anstän­di­gen“ sess­haf­ten Bürger:innen sie in der Nach­bar­schaft haben. Wie es bei vie­len mar­gi­na­li­sier­ten Grup­pen der Fall ist, wur­den auch die Jeni­schen nicht nur meta­pho­risch aus der Mitte der Gesell­schaft gedrängt: Die Wohn­ge­bäude der Fah­ren­den befan­den sich häu­fig auf unwirt­li­chen, abseits gele­ge­nen Gemein­de­grün­den – eben dort, wo es kei­nen land­wirt­schaft­li­chen Nut­zen gab oder man in schlech­ten Zei­ten auch mit lebens­ge­fähr­li­chen Kata­stro­phen wie Schlamm­la­wi­nen, Stein­schlä­gen oder Hoch­was­ser zu rech­nen hatte. Im Tiro­ler Ober­land wären die Inn-Auen oder Schot­ter­gru­ben eis­zeit­li­cher End­mo­rä­nen Bei­spiele für sol­che Gebiete. 

Heute kaum vor­zu­stel­len, aber vor knapp einem Jahr­hun­dert war der Anblick fah­ren­der Men­schen noch Teil des All­tags (→ Dos­sier: Gesell­schafts­struk­tur). Mit Ende März, Anfang April wurde bei den jeni­schen Fami­lien dann vie­ler­orts der Hund oder das Pferd vor den Kar­ren gespannt, in den meis­ten Fäl­len aber musste ein Fami­li­en­mit­glied das Zie­hen des Wagens über­neh­men. Dabei kamen die Jeni­schen mit­un­ter ganz schön herum – in Bay­ern etwa galt der Aus­druck „Tyro­ler“ als Bezeich­nung für fah­ren­des Händ­ler­volk, die Jeni­schen waren also im wahrs­ten Sinne des Wor­tes „Kulturträger:innen“.

Auch wenn die Jeni­schen ihre som­mer­li­chen Frei­hei­ten mit­un­ter sicher auch zu genie­ßen wuss­ten, so war das Über­le­ben auf der Straße harte, ent­beh­rungs­rei­che Arbeit und bot oft nur wenig Anlass zur Freude. 

Das häu­fig besun­gene sor­gen­freie und freud­volle Leben der Fah­ren­den war alles andere als die Wirk­lich­keit, son­dern viel­mehr ein roman­tisch ver­klär­ter Mythos der Sess­haf­ten, eine eska­pis­ti­sche Fan­ta­sie, der sich bür­ger­li­che Schriftsteller:innen, Dichter:innen und andere Künstler:innen mit oft träu­me­ri­scher „Zivi­li­sa­ti­ons­mü­dig­keit“ hin­ga­ben. Da die Jeni­schen selbst damals so gut wie gar keine schrift­li­chen Quel­len hin­ter­las­sen haben, domi­nierte die Schwär­me­rei der Sess­haf­ten das Bild der jeni­schen Lebens­weise und taucht so in zeit­ge­nös­si­schen Zei­tungs­ar­ti­keln, Rei­se­be­rich­ten, Gemäl­den, sowie hei­mat­kund­li­chen und volks­tüm­li­chen Erzäh­lun­gen auf. Auch wenn sie immer wie­der wert­volle Ein­bli­cke und Details in die his­to­ri­sche Rea­li­tät bie­ten kön­nen, pen­deln diese Dar­stel­lun­gen (nicht sel­ten im sel­ben Atem­zug) zwi­schen nei­di­scher Sehn­sucht und her­ab­las­sen­dem Spott. Die Autor:innen konn­ten es sich wohl nur sel­ten ver­knei­fen, ihre eigent­lich gering­schät­zige Hal­tung zum Aus­druck zu brin­gen. Mit der tat­säch­li­chen Lebens­rea­li­tät der Jeni­schen setz­ten sie sich kaum je im Geiste auf­rich­ti­ger Empa­thie auseinander. 

Das hat sich in den letz­ten 40 Jah­ren wohl gebes­sert: Zuneh­mend bemüht sich die Wis­sen­schaft um einen objek­ti­ve­ren Blick und sucht nach plau­si­blen Erklä­run­gen für das Phä­no­men des jeni­schen Semi-Noma­dis­mus. Auch nicht-jeni­sche Schrift­stel­ler wie Tho­mas Saut­ner ent­wer­fen ihre Romane mit grö­ße­rer Ein­fühl­sam­keit. Trotz­dem schwingt noch immer ein unan­ge­neh­mer Roman­ti­zis­mus mit. Daher bleibt es ein unbe­frie­di­gen­des Bild, denn die Stim­men und Augen der Jeni­schen, die noch wie zu alter Zeit leb­ten, sind längst ver­klun­gen und erlo­schen. Im bes­ten Fall jagt man Schat­ten und Echos hinterher. 

Allgemein

Remi­nes­zen­zen

Rome­dius Mun­gen­ast erzählt vom Leben sei­ner jeni­schen Groß­el­tern und der eige­nen Kind­heit. Außer­dem löst er die span­nende Frage, wie man denn einen Igel rich­tig zubereitet.

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