Jeni­sche Wider­stands­prak­ti­ken im Tirol des 20. Jahrhunderts

Das For­schungs­vor­ha­ben „Ich hab das nicht akzep­tiert! Jeni­sche Wider­stands­prak­ti­ken im Tirol des 20. Jahr­hun­derts“ unter­sucht die viel­fäl­ti­gen For­men des Wider­stands der Jeni­schen gegen Dis­kri­mi­nie­rung und Mar­gi­na­li­sie­rung in Tirol. Die Jeni­schen sind eine sozio­kul­tu­relle Min­der­heit mit einer eige­nen Spra­che und Kul­tur, die tra­di­tio­nell semi-noma­disch lebte. Das Pro­jekt ver­wen­det einen inte­gra­ti­ven und par­ti­zi­pa­ti­ven Ansatz, der Oral History, sys­te­ma­ti­sche Archiv- und Quel­len­ar­beit sowie her­me­neu­ti­sche Lek­türe umfasst. Ziel ist es, his­to­ri­sche Wider­stands­for­men zu doku­men­tie­ren und deren Ein­fluss auf das heu­tige Selbst­ver­ständ­nis der Jeni­schen Gemein­schaf­ten zu untersuchen.

For­schungs­stand und Forschungslücke

Die For­schung zu den Jeni­schen, einer sozio­kul­tu­rel­len Min­der­heit in Mit­tel­eu­ropa, die tra­di­tio­nell semi-noma­disch lebte, hat eine kom­plexe und oft belas­tete Geschichte. Wäh­rend des Natio­nal­so­zia­lis­mus wurde die For­schung über die Jeni­schen stark durch die Ideo­lo­gie der Ras­sen­hy­giene und ras­sen­bio­lo­gi­sche Stu­dien beein­flusst. Diese pseu­do­wis­sen­schaft­li­chen Unter­su­chun­gen patho­lo­gi­sier­ten die jeni­sche Kul­tur und unter­stütz­ten dis­kri­mi­nie­rende Maß­nah­men, die tief in die zweite Hälfte des 20. Jahr­hun­derts hin­ein­wirk­ten. Jeni­schen wurde Kri­mi­na­li­tät und Aso­zia­li­tät zuge­schrie­ben – eine Sicht­weise, die die wis­sen­schaft­li­che und gesell­schaft­li­che Wahr­neh­mung der Jeni­schen über Jahr­zehnte hin­weg prägte.

Um die Jahr­tau­send­wende begann eine neue, empa­thi­sche Per­spek­tive in der Wis­sen­schaft Fuß zu fas­sen. Dies wurde maß­geb­lich durch den jeni­schen Autor und Akti­vis­ten Romed Mun­gen­ast und andere For­scher wie Schleich (2018), Pes­costa (2001) und Gro­sin­ger (2003) beein­flusst. Diese For­schun­gen fokus­sie­ren sich auf die kri­ti­sche Auf­ar­bei­tung der Ver­fol­gungs- und Dis­kri­mi­nie­rungs­ge­schichte der Jeni­schen, jedoch wur­den wider­stän­dige Prak­ti­ken der Jeni­schen oft nur impli­zit behan­delt. Eine Aus­nahme stellt die Arbeit von Chris­tian Neu­mann (2017) dar, die die Wider­stän­dig­keit der jeni­schen Kul­tur im Kon­text ihrer sozia­len und poli­ti­schen Ein­flüsse dis­ku­tiert. Neu­mann betont die Ent­wick­lung von Über­le­bens­stra­te­gien als Wider­stands­form gegen Armut und soziale Disziplinierung.

Das gegen­wär­tige For­schungs­pro­jekt zielt dar­auf ab, diese For­schungs­lü­cke zu schlie­ßen und durch sys­te­ma­ti­sche Unter­su­chung ein reich­hal­ti­ges und dif­fe­ren­zier­tes Bild jeni­scher Wider­stands­prak­ti­ken zu schaffen.

For­schungs­vor­ha­ben

Das For­schungs­vor­ha­ben „Ich hab das nicht akzep­tiert! Jeni­sche Wider­stands­prak­ti­ken im Tirol des 20. Jahr­hun­derts“ ver­folgt das Ziel, die ver­schie­de­nen For­men des Wider­stands der Jeni­schen gegen Dis­kri­mi­nie­rung und Mar­gi­na­li­sie­rung zu iden­ti­fi­zie­ren und zu ana­ly­sie­ren. Das Pro­jekt basiert auf meh­re­ren For­schungs­fra­gen, die ein umfas­sen­des Ver­ständ­nis der wider­stän­di­gen Prak­ti­ken ermög­li­chen sollen:

  1. Wel­che jeni­schen Wider­stands­prak­ti­ken las­sen sich im Tirol des 20. Jahr­hun­derts iden­ti­fi­zie­ren?
    Um diese Frage zu beant­wor­ten, wird ein mehr­di­men­sio­na­les Modell ver­wen­det, das insti­tu­tio­nelle, struk­tu­relle, all­täg­li­che und inter­na­li­sierte Dis­kri­mi­nie­rungs­for­men berück­sich­tigt. Es soll her­aus­ge­ar­bei­tet wer­den, wel­che tra­di­tio­nel­len Prak­ti­ken und kul­tu­rel­len Aus­drucks­for­men der Jeni­schen in Tirol ihr wider­stän­di­ges Ver­hal­ten beeinflussten.
  2. Wie inter­agie­ren jeni­sche Wider­stands­for­men mit der mehr­di­men­sio­na­len Dis­kri­mi­nie­rung und Ver­fol­gung?
    Diese Frage zielt dar­auf ab, die Wech­sel­wir­kun­gen zwi­schen his­to­ri­schen Zäsu­ren, gesell­schaft­li­chen Ver­än­de­run­gen und gesetz­li­chen Rah­men­be­din­gun­gen im Tirol des 20. Jahr­hun­derts und den wider­stän­di­gen Prak­ti­ken der Jeni­schen zu unter­su­chen. Es wird ana­ly­siert, ob jeni­sches Gegen­ver­hal­ten defen­siv oder pro­ak­tiv war.
  3. Wel­che Rolle spie­len wider­stän­dige Prak­ti­ken in der Iden­ti­tät heu­ti­ger Jeni­scher?
    Hier wird der Ein­fluss his­to­ri­scher Wider­stands­for­men auf das Selbst­ver­ständ­nis der heu­ti­gen jeni­schen Gemein­schaft unter­sucht. Es wird ana­ly­siert, ob sich heu­tige Jeni­sche in einer his­to­ri­schen Wider­stands­tra­di­tion verorten.

Das For­schungs­pro­jekt ver­wen­det einen inte­gra­ti­ven metho­di­schen Ansatz, der Oral History, sys­te­ma­ti­sche Archiv- und Quel­len­ar­beit sowie her­me­neu­ti­sche Lek­türe kom­bi­niert. Die­ser Ansatz ermög­licht es, ein reich­hal­ti­ges Bild der Wider­stands­prak­ti­ken Jeni­scher im Tirol des 20. Jahr­hun­derts vor dem Hin­ter­grund mul­ti­di­men­sio­na­ler Dis­kri­mi­nie­rung und Mar­gi­na­li­sie­rung zu zeich­nen, ohne dabei ein jeni­sches Kol­lek­tiv­sub­jekt zu konstruieren.

Insti­tu­tio­nelle Dis­kri­mi­nie­rung 
Insti­tu­tio­nelle Dis­kri­mi­nie­rung umfasst Prak­ti­ken der Her­ab­set­zung, Benach­tei­li­gung und Aus­gren­zung von sozia­len Grup­pen auf der Ebene von Orga­ni­sa­tio­nen und ihren Pro­fes­sio­nen, die zu dau­er­haf­ten Benach­tei­li­gun­gen füh­ren. Diese Dis­kri­mi­nie­rung begann lange vor der natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Dik­ta­tur und setzte sich auch nach 1945 fort. Bei­spiele dafür sind die stra­te­gi­schen Maß­nah­men des Gesetz­ge­bers gegen das Umher­zie­hen der Jeni­schen im Jahr 1853 und die fort­ge­setzte poli­zei­li­che, jus­ti­zi­elle und admi­nis­tra­tive Benach­tei­li­gung der Jeni­schen nach dem Zwei­ten Weltkrieg.

All­tags­dis­kri­mi­nie­rung
All­tags­dis­kri­mi­nie­rung beschreibt sub­tile und all­täg­li­che Prak­ti­ken der Dis­kri­mi­nie­rung, mit denen Mit­glie­der mar­gi­na­li­sier­ter Grup­pen kon­fron­tiert sind. Bei­spiele dafür sind her­ab­wür­di­gende Bemer­kun­gen oder die Ver­un­glimp­fung auf­grund von Fami­li­en­na­men. Diese For­men der Dis­kri­mi­nie­rung füh­ren oft zur Ver­in­ner­li­chung und Akzep­tanz nega­ti­ver Zuschreibungen.

Inter­na­li­sierte Dis­kri­mi­nie­rung
Inter­na­li­sierte Dis­kri­mi­nie­rung tritt auf, wenn Mit­glie­der mar­gi­na­li­sier­ter Grup­pen die ihnen zuge­schrie­be­nen nega­ti­ven Ste­reo­ty­pen in ihr eige­nes Selbst­bild inte­grie­ren. Dies kann zu Ver­hal­tens­wei­sen ent­lang die­ser Zuschrei­bun­gen füh­ren und als selbst­er­fül­lende Pro­phe­zei­ung wirken.

Das For­schungs­de­sign betont die Bedeu­tung par­ti­zi­pa­ti­ver Ele­mente, indem Jeni­sche als Co-Forscher:innen aktiv in den For­schungs­pro­zess ein­ge­bun­den wer­den. Diese Co-Forscher:innen wer­den geschult und füh­ren Inter­views durch, um die Qua­li­tät der gesam­mel­ten Daten zu gewähr­leis­ten. Zwi­schen­er­geb­nisse wer­den regel­mä­ßig reflek­tiert und mit der jeni­schen Gemein­schaft dis­ku­tiert, um valide und akzep­tierte Ana­ly­sen zu ermöglichen.

Durch die Zusam­men­ar­beit mit dem Insti­tut für Zeit­ge­schichte der Uni­ver­si­tät Inns­bruck wird die wis­sen­schaft­li­che Qua­li­tät des Pro­jekts sicher­ge­stellt. Der par­ti­zi­pa­tive Ansatz soll nicht nur neue Erkennt­nisse gewin­nen, son­dern auch posi­tive Ver­än­de­run­gen ansto­ßen und die Selbst­er­mäch­ti­gung der Jeni­schen Gemein­schaft fördern.

Ethi­sche Aspekte 

Das For­schungs­pro­jekt ver­pflich­tet sich den Fair­ness-Regeln für For­schende und Kul­tur­schaf­fende der Rad­ge­nos­sen­schaft der Land­straße. Jeni­sche wer­den nicht nur als Objekte der For­schung, son­dern als aktive Mitgestalter:innen ein­be­zo­gen. Ethi­sche Richt­li­nien beinhal­ten Respekt und Sen­si­bi­li­tät, infor­mierte Zustim­mung, Anony­mi­tät und Ver­trau­lich­keit, par­ti­zi­pa­tive Ethik, kon­ti­nu­ier­li­che Refle­xion ethi­scher Her­aus­for­de­run­gen sowie Trans­pa­renz und Verantwortlichkeit.

Koope­ra­ti­ons­part­ner 

Zu den Koope­ra­ti­ons­part­nern zäh­len das Insti­tut für Zeit­ge­schichte der Uni­ver­si­tät Inns­bruck, das Tiro­ler Lan­des­ar­chiv, das Stadt­ar­chiv Inns­bruck, das His­to­ri­sche Archiv des Lan­des­kran­ken­hau­ses Hall, die Biblio­thek des Fer­di­nan­de­ums, der Ver­ein Jeni­sche in Öster­reich, der Euro­päi­sche Jeni­sche Rat, die Rad­ge­nos­sen­schaft der Land­straße, der Zen­tral­rat der Jeni­schen Deutsch­land sowie der Jeni­sche und Wis­sen­schaft­li­che Bei­rat des Jeni­schen Archivs.

Pro­jekt­plan und Arbeits­pa­kete 

Das drei­jäh­rige Pro­jekt ist in ver­schie­dene Pha­sen unterteilt:

  • Jahr 1: Ein­füh­rung und Schu­lung der Co-Forscher:innen, Beginn der Daten­samm­lung (Oral History Inter­views, Archiv­re­cher­chen, Ana­lyse wis­sen­schaft­li­cher Literatur).
  • Jahr 2: Daten­ana­lyse und Refle­xi­ons­schlei­fen, Ergän­zung des Mate­ri­als, Inter­pre­ta­tion und Zusam­men­stel­lung der Ergebnisse.
  • Jahr 3: Erstel­lung des For­schungs­be­richts, Vor­be­rei­tung und Durch­füh­rung der Dis­se­mi­na­tion, Abschluss­be­wer­tung und lang­fris­tige Planung.

Nach­hal­tig­keit und lang­fris­tige Pla­nung 

Es wer­den Stra­te­gien für die lang­fris­tige Nut­zung und Ver­brei­tung der For­schungs­er­geb­nisse ent­wi­ckelt. Zukünf­tige Pro­jekte oder Fort­set­zun­gen wer­den in Betracht gezo­gen, um die gewon­ne­nen Erkennt­nisse nach­hal­tig zu nut­zen und weiterzugeben.

Ver­öf­fent­li­chun­gen und Tätig­kei­ten des Jeni­schen Archivs 

Das Jeni­sche Archiv, gegrün­det von der Initia­tive Min­der­hei­ten Tirol, dient als zen­tra­ler Ort des For­schens und Erin­nerns. Es zielt dar­auf ab, das kul­tu­relle Gedächt­nis der Tiro­ler Fah­ren­den zu bewah­ren und für zukünf­tige öffent­li­che und wis­sen­schaft­li­che Aus­ein­an­der­set­zun­gen zugäng­lich zu machen. Über die eta­blier­ten Netz­werke wer­den Jeni­sche und andere Inter­es­sierte aktiv zur Betei­li­gung ein­ge­la­den, ​um das ver­streute Wis­sen zu bün­deln und der Insti­tu­tion zur Ver­fü­gung zu stellen.

Das For­schungs­pro­jekt trägt dazu bei, die his­to­ri­sche und kul­tu­relle Iden­ti­tät der Jeni­schen in Tirol zu bewah­ren und sicht­bar zu machen. Es för­dert ein bes­se­res Ver­ständ­nis und eine höhere Sicht­bar­keit der Jeni­schen und ihrer Kul­tur in der moder­nen Gesell­schaft, indem es ihre wider­stän­di­gen Prak­ti­ken doku­men­tiert und analysiert.

Das Pro­jekt wird geför­dert von der Kul­tur­ab­tei­lung des Lan­des Tirol – Schwer­punkt Erin­ne­rungs­kul­tur und vom Kul­tur­amt der Stadt Innsbruck.

error: